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PRODUKTIONSNOTIZEN

Januar 2001
Die Reihe „radikal digital“.

Mit der Reihe „radikal digital“ gibt die Reverse Angle Factory in Koproduktion mit dem WDR und unter der Schirmherrschaft von Wim Wenders ausgewählten Filmemachern die Möglichkeit, mit Digitalkameras ihre ersten Spielfilme zu drehen: Filmstudenten aus ganz Deutschland werden eingeladen, ihre Arbeiten einzureichen – darunter auch Oliver Schwabe von der Kunsthochschule für Medien in Köln.

Seit 1998
Oliver Schwabe gibt jährlich Videotagebücher für den NDR heraus.

„Ich habe den von mir ausgesuchten Protagonisten, allesamt Jugendliche zwischen 15 und 22, eine Kamera in die Hand gedrückt“, erläutert er, „und sie haben jeweils ein Jahr lang ihr Leben gefilmt. Während dieser Zeit wurden sie von mir angeleitet; ich habe mir in gewissen Abständen ihr Filmmaterial angesehen und Anregungen gegeben. Aber letztlich durften sie selbst entscheiden, was sie filmen wollten. Und am Ende des Jahres habe ich jeweils aus rund 80 Stunden Rohmaterial eine 45-minütige Dokumentation geschnitten – unkommentiert und ohne zusätzliche Interviews. Dabei war es manchmal schwierig, die dramaturgische Kurve zu kriegen, weil viel Wichtiges einfach ungefilmt blieb.“

Juni 2001

Ute Schneider, Produzentin und Geschäftsführerin der Reverse Angle Factory, zeigt sich von den Dokumentationen begeistert und fragt Oliver Schwabe, ob er sich vorstellen könnte, ein fiktives Videotagebuch zu inszenieren.

Dezember 2001

Oliver Schwabe tut sich mit Christian Becker zusammen, ebenfalls ein Absolvent der Kölner Kunsthochschule für Medien, mit dem er bereits bei Kurzfilm- und Dokumentarfilm-Projekten zusammengearbeitet hat und der über Erfahrungen als Autor und Regisseur im Spielfilm-Bereich verfügt.

Januar 2002
Gründung von Field Recordings (Christian Becker und Oliver Schwabe).

Gemeinsam entwickeln sie unter dem Namen Field Recordings das Konzept zu „Egoshooter“. Die beiden Filmemacher orientieren sich dabei eng an den Videotagebüchern: Ziel ist es, möglichst nah an der Lebensrealität der darin porträtierten Jugendlichen zu bleiben. Einige von ihnen, darunter der Rapper Max Timm und der Skater Ben Nijmeijer, spielen sich im Film selbst.

Jakob, die Hauptfigur, kreieren Christian Becker und Oliver Schwabe neu: „Jakob tut Dinge, die auch Jugendliche in den Videotagebüchern tun oder gern tun würden“, erzählen die Regisseure. „Wir wollten uns diesen Jugendlichen annähern, eine Zustandsbeschreibung schaffen – nicht unbedingt ein allgemeingültiges Porträt einer ganzen Generation, aber zumindest ein Bild der jungen Menschen, die wir getroffen haben. Immer wieder ist uns dabei ein gemeinsames Lebensgefühl begegnet: Die Jugendlichen sind auf der Suche nach dem richtigen Weg, aber sie wissen überhaupt nicht, wohin; sie tragen eine vage Sehnsucht in sich, ohne sagen zu können, wonach; sie verspüren den dringenden Wunsch nach Veränderung, doch sie können ihn nicht in Taten umwandeln. Diese Stimmung wollten wir einfangen.“

Die Charaktere in „Egoshooter“ sind nicht in der Lage, aus ihrem Leben auszubrechen: „Jakob und die Leute in seiner Umgebung fühlen, dass etwas nicht stimmt, aber sie haben keine Ahnung, was sie dagegen tun können“, konstatiert Oliver Schwabe. „Man merkt, es brodelt in ihnen, es könnte jederzeit etwas passieren, aber es ist noch unklar, in welche Richtung das gehen soll.“ Christian Becker ergänzt: „Selbst der Rapper, der Aktivste der Clique, rebelliert ‚nur‘ auf der Bühne – seine Revolution findet mit Worten statt.“

Die Filmemacher rücken bei dieser Zustandsbeschreibung von einer traditionellen, linearen Erzählweise ab: „Wir wollten keinen klassischen Plot, sondern wir porträtieren einen Jugendlichen, der hauptsächlich in seinem Zimmer hockt und mit der Kamera seinen Alltag beschreibt – eine durchaus bittere Realität, die aber letztlich auch Hoffnung in sich trägt“, resümiert Christian Becker. „Ziel war es, dieses Porträt wie ein Puzzle aus Momentaufnahmen entstehen zu lassen, aus Splittern, die oft nur durch eine gewisse Stimmung zusammengehalten werden. Sicher hätten wir es uns mit einer plothaltigeren Geschichte einfacher machen können. Aber es war uns wichtig, den Stil und die Atmosphäre der dokumentarischen Videotagebücher beizubehalten.“

Dezember 2002
Tom Schilling wird für die Hauptrolle verpflichtet.

„Uns war klar, dass das im Wesentlichen eine Ein-Mann-Show werden würde“, erklärt Oliver Schwabe. „Es musste jemand sein, der nicht nur Jakobs Charakter glaubhaft verkörpert, sondern auch jemand, dem man gern rund 80 Minuten lang zusieht“, fügt Christian Becker an. „Und da kamen wir irgendwann zwangsläufig auf Tom Schilling: Seine Physis, seine Bewegungen, seine Art zu sprechen – all das hat etwas Nervöses und Unstetes, das perfekt zu Jakobs Orientierungslosigkeit passt. Er ist genau das, wonach wir gesucht haben: eine Persönlichkeit mit Ecken und Kanten, die in der Lage ist, einen ganzen Film auch alleine zu tragen.“

25.02. – 01.03.2003
Drehvorbereitung in der Eifel zusammen mit dem gesamten Team.

05.03.2003
Drehbeginn „Egoshooter“.

Während der Dreharbeiten wohnen die Darsteller zusammen in einem angemieteten Kölner Loft. „Das kam dem Film sicherlich zu Gute“, findet Christian Becker. „Es hat dazu beigetragen, dass die Schauspieler und das Team zusammengewachsen sind.“ Die Teammitglieder wurden auf ein Minimum reduziert: „Inklusive der Schauspieler waren wir grundsätzlich beim Drehen nur mit fünf bis sechs Leuten unterwegs. Das hat uns die Flexibilität gegeben, die uns so wichtig war“, bestätigt Oliver Schwabe.

Außer Tom Schilling verfügen nur vier weitere Darsteller in „Egoshooter“ über Schauspiel-Erfahrung: Camilla Renschke, Nomena Struß, Lilia Lehner und Lennie Burmeister. Nachdem früh fest stand, dass die übrigen Rollen von Laien gespielt würden, hatten die beiden Filmemacher kein detailliertes Drehbuch verfasst, sondern ein knapp 50-seitiges Treatment, in dem zwar viele Dialoge ausformuliert waren, einige Szenen jedoch nur grob skizziert wurden. „Wir wollten beim Drehen möglichst viel Freiheit“, betont Christian Becker. „Unser Projekt war eines der ersten überhaupt, das auf der Basis eines Treatments gefördert wurde.“

Das Treatment erweist sich während der Dreharbeiten als ständiges „work in progress“. „Manchmal haben wir abends noch etwas geschrieben“, berichtet Christian Becker, „und sind damit am nächsten Morgen ans Set gekommen. Aber wir haben nie wild herumimprovisiert, sondern hatten immer eine schriftliche Grundlage.“

Für Tom Schilling ist diese Art von Film eine völlig neue Erfahrung. „Ich bewundere seinen Mut, sich auf unser Projekt einzulassen“, gesteht Christian Becker. „Tom konnte zu keiner Sekunde sicher sein, was als nächstes passieren würde. Er wusste nur, dass er bis zu zwölf Stunden täglich auf zack sein musste, denn die Videotechnik hat es uns erlaubt, ohne großen Aufwand quasi permanent zu drehen. Diese Tour de Force war hart für ihn – nicht zuletzt deshalb, weil wir wollten, dass möglichst viel von ihm selbst in seine Darstellung einfließt.“

Eine zusätzliche Herausforderung ergibt sich für Tom Schilling aus der Tatsache, dass er teilweise selbst die Kamera führen muss. „Es gibt im Film sowohl die objektive Sicht auf das, was mit Jakob passiert, als auch seinen subjektiven Blick – und bei der subjektiven Perspektive hat Tom grundsätzlich selbst die Kamera geführt“, betont Oliver Schwabe, der nicht nur für die „objektiven“ Bilder zuständig ist, sondern auch Tom Schilling im Umgang mit der Kamera schult. „Im Treatment hatten wir bereits genau festgelegt, wann die jeweilige Kamera zum Einsatz kommen sollte – wobei uns wichtig war, die beiden Ebenen nicht ästhetisch voneinander zu trennen. Darum haben Tom und ich mit dem gleichen Kamera-Modell gedreht. Anfangs war er noch ein bisschen steif und unsicher, aber irgendwann hat er die Scheu vor der Kameraführung völlig verloren – und am Schluss war er kaum mehr von dem Apparat zu trennen!“

„Was sich andere Videotagebuch-Kids über ein Jahr hinweg angeeignet haben, das hat Tom in 25 Tagen durchgezogen“, stellt Christian Becker fest. „Die Kamera wurde sein ständiger Begleiter: Oft hat er sogar am Set geschlafen und beim Aufwachen Statements oder Träume in die Kamera gesprochen. Er ist mit dem Ding komplett verwachsen!“

11.04.2003
Drehende „Egoshooter“.

25.04.2003 – September 2003
Die Schnittphase.

„Nachdem wir keine lineare Geschichte hatten, die von A bis Z durchläuft, war uns klar, dass ein Hauptteil unserer Arbeit im Schnitt liegen würde“, erklärt Christian Becker. „Wir hatten eine Fülle von Material gedreht – und uns von vornherein vorgenommen, drei bis vier Monate im Schneideraum zu verbringen. Die Herausforderung bestand darin, die einzelnen Teile so zu arrangieren, dass sich alles nach und nach zu einem Puzzle fügt: Wenn man nur eine Szene aus diesem fragilen Arrangement entfernen würde, dann würde das ganze Gebilde auseinander brechen.“

29.04.2003
Eine VHS-Kassette ohne Ton wird nach New York geschickt.

Ein weiteres Element in diesem Puzzle ist die Musik. Oliver Schwabe hatte vor sieben Jahren eine Dokumentation über die New Yorker Underground-Musikszene gedreht – und dabei den Musiker Aurelio Valle kennen gelernt. Ihn beauftragen die beiden Regisseure mit der Filmmusik zu „Egoshooter“. Da sie in der frühen Phase des Schnitts dem Musiker noch kein Bildmaterial des Films zukommen lassen können, entscheiden sie sich für eine außergewöhnliche Methode: „Christian und ich haben uns hingesetzt und einige Szenen aus der Filmgeschichte zusammengestellt, die meisten aus Schwarzweiß-Filmen, etwa von Bergman, Pasolini oder de Sica, allesamt ohne Ton, etwa anderthalb Stunden lang“, erzählt Oliver Schwabe. „Es war eine sehr schöne Art, über Musik nicht sprechen zu müssen, sondern einfach durch Bilder zu signalisieren, was für Stimmungen wir uns vorstellten.“

„Ich habe ziemlich schnell begriffen, was die beiden wollten“, berichtet Aurelio Valle. „Ich konnte die subtile Spannung spüren, die von diesen Bildern ausging. Bald begann ich, dazu zu improvisieren – und das Resultat habe ich wieder nach Deutschland geschickt.“ Ergänzt wird diese Musik im Film durch zwei Songs der Band Calla, deren Sänger und Gitarrist Aurelio Valle ist, sowie unter anderem durch ein Lied von Robert Stadlobers Band Gary, einen Gastauftritt von Rocklegende Nikki Sudden und durch die Freestyle-Rap-Einlagen von Max Timm alias Mad Maxomom.

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